Keine Gesellschaftsgruppe zurücklassen

christine weissChristine Weiß

Dipl.-Ing. Maschinenbau, Bereichsleiterin Innovation u. Kooperation, VDI/VDE Innovation+Technik GmbH 

Frau Weiß, im Auftrag der Bertelsmann Stiftung haben Sie die Möglichkeiten untersucht, welche die Digitalisierung für ältere Menschen bereithält. Warum stehen gerade Ältere im Fokus dieser Studie?

Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind in Deutschland unübersehbar angekommen. Zum einen stellt der Fachkräftemangel für die Wirtschaft ein ernstzunehmendes Risiko dar, zum anderen wird die Bevölkerung stetig älter. Parallel führt die exponentielle Entwicklung der Digitalisierung zu immer mehr digitalen Produkten und Angeboten. Auch wenn die älteren Menschen in der Mediennutzung kontinuierlich aufholen, so sind sie doch am stärksten von der digitalen Spaltung der Gesellschaft bedroht. Allen Menschen gleiche Chancen zu eröffnen, entspricht dem Leitgedanken der Bertelsmann-Stiftung: "Menschen bewegen. Zukunft gestalten. Teilhabe in einer globalisierten Welt“.

Welche Lebensbereiche älterer Menschen werden von der Digitalisierung berührt?

Die Studie stand unter dem Motto „Digitalisierung für mehr Teilhabe im Alter“. In einem Expertenworkshop wurde diese „Digitale Teilhabe“ in drei Fokusfelder und drei Querschnittsfelder unterteilt, um sich in diesem breiten Thema nicht zu verlieren. Folgende drei Fokusfelder wurden herausgearbeitet:

1. gesund leben,

2. selbstbestimmtes Wohnen,

3. soziale Einbindung im Quartier.

Bei den Querschnittsfeldern wurden Folgende identifiziert:

1. Technikkompetenz digitaler Akteure,

2. digitale Vernetzung und Kommunikation,

3. Innovationen und Zukunftstechnologien.

Um als Good-Practice-Beispiel zu gelten, sollten alle sechs Felder berücksichtigt sein.

Digitalisierung in den Bereichen Sicherheit (Smart Home), Medizin und Pflege ist das eine. Doch zur digitalen Vernetzung, zur Kommunikation oder zum online-Shopping benötigen die Älteren selbst Kompetenzen im Umgang mit den neuen digitalen Technologien. Vor dem Hintergrund des Innovationstempos ist es für viele vermutlich nicht leicht, am Ball zu bleiben. Wie sehen Sie das?

Hier stimme ich Ihnen absolut zu. Die besondere Relevanz dieses Themas führte auch zu einer Follow-up Studie der Bertelsmann Stiftung mit Schwerpunkt auf „Digitale Souveränität“. Erste Ergebnisse dieser Studie wurden dieses Jahr auf der re:publica vorgestellt und stießen auf breites Interesse. Denn so herausfordernd es auch ist, die Gesellschaft muss heute schon allen Menschen einen kompetenten Umgang mit neuen Medien, digitalen Schatten, dem Quantified Self, Big Data, Plattformökonomien bis hin zu Social Bots und Bitcoins ermöglichen. Keine Gesellschaftsgruppe darf zurückgelassen und vor allem auch nicht in ihrer Innovationsfähigkeit unterschätzt werden.

Welche Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, um Senioren die Nutzung digitaler Angebote zu ermöglichen bzw. zu erleichtern?

Es gibt in meinen Augen zwei wesentliche Treiber: Motivation und Verfügbarkeit. Den Faktor „Motivation“ verkörpert wie keine andere Dagmar Hirche, die mit ihrem Verein „Wege aus der Einsamkeit“ Maßstäbe in Deutschland setzt. In ihrer mitreißenden Art veranschaulicht sie den Zugang zu digitalen Medien und überzeugt auch hochaltrige SeniorInnen von den Chancen des Internets. Aber ohne Zugang zur Technologie nutzt auch die beste Motivation nichts. Heute gibt es bereits eine latente Altersarmut, die in den nächsten Jahren noch zunimmt. Eine interessante Forderung in diese Richtung ist kostenloses WLAN in Pflegeheimen. Aber auch die Hardware und der Service verursachen Kosten, die sich nicht alle älteren Menschen leisten können.

Eine denkbare Anwendung digitaler Technologien bei Älteren sind Pflege- und Serviceroboter. Anders als oftmals vermutet scheint die Akzeptanz groß zu sein: Mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland können sich vorstellen, einen Pflegeroboter zu nutzen, insbesondere, wenn sie damit weiterhin zuhause wohnen können. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass technische Assistenzsysteme auf breiter Ebene eingesetzt werden und den Pflegenotstand zumindest teilweise abfedern können?

Auch wenn immer betont wird, dass die Technik schon da ist und nur noch auf ihren Einsatz warten, so sehe ich weiterhin einen großen technischen Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Gerade im Feld der Robotik und Künstlichen Intelligenz müssen noch wesentliche Innovationssprünge passieren, damit Maschinen für Menschen alltägliche Tätigkeiten wie eine Spülmaschine ausräumen oder Betten machen übernehmen können. Es gibt aber erste sehr anschauliche Beispiele. Dazu gehört u.a. das ROBINA-Projekt des Pflegewerks Berlin. Hier unterstützt ein Roboterarm stark bewegungseingeschränkte Patienten bei der selbstbestimmten Anreichung von Getränken oder beim profanen Kratzen. Tragfähige Geschäftsmodelle sind allerdings eine der größten Herausforderungen von Assistenzsystemen. Der Ruf nach der Kranken- bzw. Pflegekasse ist allgegenwärtig. Hier kommt aber aktuell erstaunliche Bewegung ins Thema. Krankenkassen sind dabei sogar Innovationstreiber.

Die Bertelsmann-Studie stellt Good-Practice Anwendungen vor, die die Teilhabe und Selbstständigkeit älterer Menschen unter Einsatz digitaler und assistiver Technologien in den Mittelpunkt stellen. Welche Technologien werden bei den Projekten konkret eingesetzt? Gibt es schon erste Ergebnisse?

Einen sehr überzeugenden Ansatz verfolgte z. B. das GKV-geförderte Projekt pflege@quartier. Hier erarbeitete das kommunale Wohnungsunternehmen GESOBAU zusammen mit der Forschungseinrichtung FH Wildau, dem Technikunternehmen ESCOS und der Krankenkasse AOK Nordost ein nachhaltiges Konzept, wie ältere Menschen mit Hilfe von Assistenzsystemen länger in ihren Wohnungen bleiben können. Das Projekt startete mit einer Vielzahl von innovativen Lösungsansätzen: u. a. Sturzerkennung, Herdabschaltung, zirkadiane Lichtsteuerung oder Alles-aus-Schalter. Am Ende wurde die Ausstattung auf wenige wichtige Komponenten konzentriert und wird von der GESOBAU in ausgewählte Bestandwohnungen eingebaut.

Die Palette bereits verfügbarer seniorengerechter Produkte mit digitaler Komponente ist breit. Einige davon werden beispielhaft in der Studie vorgestellt. Welchen Lösungen räumen Sie die besten Chancen ein, sich am Markt zu behaupten?

Die größten Chancen haben in meinen Augen Anwendungen, die einen hohen Nutzen aufweisen und bereits auf belastbare Finanzierungen aufbauen können. Hier möchte ich drei Produkte beispielhaft herausstellen:

1. Sturzerkennung im Rahmen des Hausnotrufs: Der „klassische“ Hausnotruf ist das einzige gelistete elektrische Pflegehilfsmittel. Basierend auf der Hilferuffunktion sollen weitere Sensoren zum Einsatz kommen, die hilflose Menschen z. B. nach einem Sturz oder einem Schlaganfall erkennen und Alarm auslösen. Es gibt Bestrebungen, diese Inaktivitätserkennung als zusätzliche Innovationen in den Hilfsmittelkatalog aufzunehmen.

2. Zirkadianes Lichtsystem: Solche Beleuchtungskonzepte imitieren je nach Tageszeit die reale Lichtzusammensetzung und unterstützen dadurch auch bei demenziell erkranken Menschen einen stabilen Tag-Nacht-Rhythmus. Erste Träger setzen dieses Licht auf eigene Kosten zum Wohle der Bewohner, aber auch der Pflegekräfte ein.

3. Intelligente Toiletten: Solche Toiletten unterstützen mobilitätseingeschränkte Menschen in der Hygiene des Intimbereichs. Durch eine sensorgestützte Spül- und Fönfunktion geht das System auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten ein. Aktuell setzen v. a. private Reha-Kliniken diese Toiletten ein.

Seit über 10 Jahren begleite ich das Thema „Altersgerechte Assistenzsysteme“. Nie standen die Chancen für den Marktdurchbruch so gut wie heute. Eine gute Chance bietet der SENovation-Award. Teilnehmen lohnt sich!

 

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