Digital Immigrants da abholen, wo sie stehen
Bonn, 02.06.20 Die Corona-Krise verleiht der Digitalisierung einen gewaltigen Schub. Nicht nur Arbeitnehmer und Schüler können künftig davon profitieren, sondern auch Senioren. Welches Potenzial darin steckt und was es zu beachten gilt, darüber diskutierten Experten beim Webinar „Dabei oder nur drin?“, organisiert vom Team des SENovation-Awards, dem Gründerpreis für Start-ups mit seniorenfreundlichen Ideen.
Dagmar Hirche, Gründerin des Vereins „Wege aus der Einsamkeit“, weiß genau, worauf es ankommt. „Die digitale Welt lässt sich nicht stoppen“, sagt sie. „Darum muss man auch im Alter den Schritt in diese Welt wagen, wenn man teilhaben will.“ Noch gelingt das nicht jedem, kritisiert Hirche. Nur 37 Prozent der Senioreneinrichtungen stellen ihren Bewohnern WLAN zur Verfügung, und das fast immer kostenpflichtig1. Zudem gehen technische Entwicklungen oft an den Bedürfnissen der Älteren vorbei oder sind für diese Zielgruppe kaum verständlich und landen ungenutzt in der Schublade. Dagmar Hirche hat in den letzten sieben Jahren mehr als 6.500 Menschen über 65 im Umgang mit digitalen Techniken geschult. Sie setzt dabei auf Begeisterung, Spaß und Geduld. Ihre Kurse, die wegen der Kontaktbeschränkungen derzeit über ZOOM laufen und für die es mittlerweile eine Warteliste gibt, werden zu 80 Prozent von Menschen zwischen 72 und 87 gebucht, die ältesten Teilnehmer sind über 90.
Die digitale Kompetenz als Schlüsselkompetenz für Teilhabe und Inklusion ist auch einer der Kernpunkte des 8. Altersberichts der Bundesregierung „Ältere Menschen und Digitalisierung“, der demnächst erscheinen wird. „Auch ältere Menschen können und möchten lernen“, betont die Wirtschaftsinformatikerin Professor Claudia Müller, die als Mitglied der Sachverständigenkommission am Altersbericht mitgewirkt hat. Gefragt sind niederschwellige Angebote, die die Älteren dort abholen, wo sie stehen. Neben Kursen wie denen von Dagmar Hirche sind Videostreams von Sonntagsgottesdiensten ein gutes Beispiel. „Viele Anwendungen digitaler Technologien passen jedoch nicht zur Lebenswirklichkeit älterer Menschen“, sagt sie, „unter anderem, weil veraltete Altersbilder in die Produktentwicklung einfließen.“ Die Antwort darauf: Participatory Design – ein Ansatz, bei dem die künftigen Nutzer in alle Phasen der Produktentwicklung mit einbezogen werden.
Ist ein Produkt „Age-Ready“? Gunnar Spellmeyer, Professor für Industrial Design an der Hochschule Hannover, fasst zusammen: „Es sollte Spaß machen, ein Produkt zu verwenden. Und das ist der Fall, wenn es einfach und verständlich ist.“ Die größte Herausforderung bei digitalen Technologien, die auch ältere Nutzer ansprechen sollen, sei der Brückenschlag zwischen Altbekanntem und Smart Design, so der Experte. „Dafür sollten die späteren Nutzer, Hersteller und Vertrieb von Anfang an zusammen im Boot sitzen“.
Junge Gründer, die auf innovative seniorentaugliche Produkte oder Software-Lösungen setzen, sollten die Gunst der Stunde nutzen. Noch bis zum 30. Juni können sie sich mit ihrem Konzept für den SENovation-Award bewerben. Der Gründerwettbewerb richtet sich an Unternehmen in der Vorgründerphase und Start-ups, die nach dem 29. Juni 2017 gegründet wurden. Ob es dabei um Mobilität, Digitalisierung, Food, Unterhaltung oder Gesundheit geht – alles ist erlaubt. Der SENovation-Award wurde 2018 von der Deutschen Seniorenliga mit der SIGNAL IDUNA Gruppe ins Leben gerufen. Die Gewinner erhalten ein Preisgeld von jeweils 5.000 Euro und ein Coaching für ein Jahr. Informationen unter www.senovation-award.de.
1 Umfrage: W-LAN-Studie Pflegeheime 2018, pflegemarkt.com
Webinar „Dabei oder nur drin“, 18.05.20, Frank Leyhausen, SENovation-Award
- Dagmar Hirche , Vorstands-und Gründungsmitglied Verein Wege aus der Einsamkeit e.V., „Dabei oder nur drin? – Wir sagen mittendrin“
- Prof. Dr. Claudia Müller, Wirtschaftsinformatik, insb. IT für die alternde Gesellschaft, Universität Siegen und CareumHochschule Gesundheit, Zürich , „Der 8. Altersbericht der Bundesregierung „Ältere Menschen und Digitalisierung - Ausgewählte Ergebnisse und Handlungsempfehlungen“
- Gunnar Spellmeyer Professor für Industrial Design Nexster / Hochschule Hannover , „Design des Alltags – ›age-ready‹?“